Nach der Entnazifizierung folgte im neuen Bundesland Schleswig-Holstein eine Welle, die schon damals als die sogenannte „Renazifizierung“ bezeichnet wurde. Die nach dem Zweiten Weltkrieg von den Alliierten verfügte Entnazifizierung hatte wegen ihres bürokratischen Charakters bei allen Parteien in dem neuen Bundesland Unzufriedenheit ausgelöst. Selbst die politischen Gegner der Nationalsozialisten empfanden die Schuldzuweisungen lediglich aufgrund von formeller Mitgliedschaft in NS-Organisationen als ungerecht. Zudem waren die „Altbürger“ gegenüber den Flüchtlingen und Vertriebenen, die sich immer wieder auf fehlende Nachweise berufen konnten, deutlich benachteiligt. So wurde noch 1948 unter der Regierung der SPD ein Entnazifizierungsgesetz verabschiedet, durch das über 400.000 Menschen als entnazifiziert und nur gut noch 2.000 als schwerer belastet eingestuft wurden. Noch im Landtagswahlkampf 1950 waren sich alle Parteien darüber einig, dass die noch anhängigen Verfahren möglichst schnell zu beenden seien.

„Endnazifizierung“ ad absurdum

Nachdem 1950 die CDU die SPD in der Regierung abgelöst hatte, setzte sie jedoch gegen die SPD-Opposition ein Gesetz durch, das deutlich über den bis dahin bestehenden Konsens hinausging. Danach wurden praktisch alle vorher noch Belasteten rehabilitiert und rückwirkend als „Entlastete“ eingestuft. Dieses Gesetz führte die „Entnazifizierung“ ad absurdum. Wer aus dem öffentlichen Dienst entlassen worden war, hatte nun Anspruch auf seine alten Rechte. Das Gesetz machte auch den Weg frei für die Rückkehr ehemaliger NS-Funktionäre in höchste Stellen in Politik und Verwaltung. Der CDU-Innenminister Paul Pagel (*1894-1955†) prägte den Begriff der „Renazifizierung“. Er war im Kabinett von Ministerpräsident Walter Bartram (CDU) (*1893-1971†) der einzige, der nicht in einer NS-Organisation angehört hatte. Seine Kabinettskollegen bezeichnete er als „Koalition aus SA, SS und NSDAP“. Am 14. März 1951 schrieb er in sein Tagebuch: „Man kann mit Recht allmählich von einer Renazifizierung sprechen. Merkwürdig, wie selbstverständlich die alten Nazis auftreten und wie feige sie im Grunde sind, wenn man ihnen hart entgegentritt.“ Bereits in der Debatte des Landtages vom 24. November 1950 zum Thema „Stopp der Entnazifizierung“ hatte der SPD-Abgeordnete Wilhelm Käber (*1896-1987†) bitter erklärt: „Schleswig-Holstein stellt fest, daß es in Deutschland nie einen Nationalsozialismus gegeben hat.“

Schleswig-Holstein macht Schlagzeilen

Immer wieder geriet das junge Bundesland in den Folgejahren wegen der in Spitzenpositionen aufgestiegenen ehemaligen Nationalsozialisten auch international in die Schlagzeilen. Noch 1951 wurde bekannt, dass dem ehemaligen Gauleiter und Oberpräsident Hinrich Lohse, der zu zehn Jahren Haftstrafe verurteilt war, ein Viertel des Ruhegehaltes des Oberpräsidenten gewährt werden sollte. Erst nach massiven Protesten kürzte ihm das Innenministerium 1956 die Pension. Doch der Norden ließ seinen ehemaligen Gauleiter nicht im Stich: Klammheimlich wurde er kurz darauf als „Angestellter“ nachversichert und konnte seinen Lebensabend in seinem Geburtsort Mühlenbarbek im Kreis Steinburg genießen. 1949 wurde Hans-Adolf Asbach (*1904-1976†) vom BHE (Bund der Heimatlosen und Entrechteten) Landessozialminister. Asbach war 1934 in die NSDAP eingetreten und war 1940 bis 1943 „Kreishauptmann“ vier polnischer Kreise und damit auch dafür zuständig, die „Endlösung der Judenfrage“ vorzubereiten. Erst 1957 holte ihn seine braune Vergangenheit ein: Asbach musste aus dem Kabinett von Kai-Uwe von Hassel (*1913-1997†) ausscheiden. Drei Jahre später wurde wegen seiner Verstrickung in den Holocaust bei der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltung in Ludwigsburg gegen ihn ein Vorermittlungsverfahrens wegen Mordes eingeleitet. Im Februar 1964 wurde der Fall an schleswig-holsteinische Staatsanwälte abgegeben, die 1965 beim Landgericht Lübeck beantragten, das Verfahren einzustellen. Dies, obwohl die Beweise gegen Asbach erdrückend waren.

Alte Kämpfer

Bevor Asbach als Minister ausschied, hatte er leitende Positionen in seinem Haus mit „linientreuen Flüchtlingen“ besetzt. 1951 ernannte er den Juristen Hans-Werner Otto (*1908-1977†) zum Staatssekretär. Er galt als Vertrauter Asbachs. Gemeinsam nahmen sie erheblichen Einfluss auf die Personalpolitik im Ministerium sowie der Sozialgerichtsbarkeit und in der Landesversicherungsanstalt. Otto war bereits 1932 der NSDAP beigetreten und galt als „alter Kämpfer“. Er war nach der Kapitulation nach Schleswig-Holstein gelangt, wo er der Deutschen Partei (DP), die rechtkonservative bis deutschnationale Ansichten vertrat, beitrat. Otto und Asbach verband der „Osteinsatz“. Von 1942 bis 1944 war Otto Stadt- und Gebietskommissar in der Südukraine gewesen. 1965 musste sich Otto einem Vorermittlungsverfahren stellen. Dabei wurde festgestellt, dass Otto im Herbst 1942 Galgen hatte errichten lassen, an denen zehn Russen erhängt werden sollten. Von der Judenverfolgung wollte Otto nichts mitbekommen haben. Als im Herbst 1943 in der Nähe von Nikolajew 50.000 Leichname von Juden und Russen aus Massengräbern ausgegraben und verbrannt wurden, will er lediglich für einige Tage einen unangenehmen Geruch wahrgenommen haben. Die Ermittler waren auf Zeugen angewiesen. Otto hatte vorgesorgt. Sein damaliger Vertreter in Nikolajew hatte es bereits zum Amtsrat im Sozialministerium gebracht. Die Justiz konnte Otto so keine NS-Verbrechen nachweisen. 1967 wechselte Otto als Staatssekretär ins Innenministerium. Als Otto zehn Jahre danach 68-jährig starb, blieb sein „Osteinsatz“ im Nachruf der Landesregierung unerwähnt.

„Fürchterliche, braune Gestalten“

Als „fürchterliche, braune Gestalten“ bezeichnete der Historiker und ehemalige Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg (CDU), wenige Monate vor seinem Tod 2001, Asbach, Otto und andere. Und die hatte es auch am Rande oder außerhalb der Regierungskreise gegeben. Zum größten Nazi-Skandal der Nachkriegsgeschichte wurde für Schleswig-Holstein so 1962 die Heyde-Sawade-Affäre. Weitere Beispiele belegen die sogenannte „Renazifierung“ und machen deutlich, dass Schleswig-Holstein nicht nur am Ende des Zweiten Weltkrieges der Fluchtpunkt im Norden war, sondern danach auch zahlreichen ehemaligen Nationalsozialisten – geduldet und gefördert von der Obrigkeit – zur „neuen Heimat“ werden konnte.

Michael Legband (0902/0721)

Quellen: Michael Legband (Hrsg.), Zweimal Unrecht 1941/1957, Heide, 1992, Verlag Boyens & Co, ISBN 3-8042-0598-4; Gespräch Michael Legband mit Dr. Gerhard Stoltenberg, 2001