Eine Wahl im Sinne der Auswahl gab es in der Zeit des NS-Regimes nicht mehr. Der in der ‚Nordischen Rundschau’ veröffentliche Wahlaufruf für die Reichstagswahlen am 29.März 1936 verdeutlicht das
Eine Wahl im Sinne der Auswahl gab es in der Zeit des NS-Regimes nicht mehr. Der in der ‚Nordischen Rundschau’ veröffentliche Wahlaufruf für die Reichstagswahlen am 29.März 1936 verdeutlicht das

„Du wählst mi nich Hitler!“*

Nach der Machtübergabe an Adolf Hitler wurde die Bevölkerung fünfmal zu Reichstagswahlen und Volksabstimmungen an die Urnen gerufen. Dabei folgten die Nationalsozialisten formaljuristisch dem Wahlrecht der Weimarer Republik. Doch es ging der NSDAP nicht mehr darum, eine Wahl im Sinne von Auswahl zu ermöglichen, das Ziel des Einparteienstaates war es, seiner Politik einen scheindemokratischen Anstrich zu geben: „Im Schmuck unzähliger Fahnen und sogleich mit Beginn der Wahlhandlung strömte die Einwohnerschaft zur Wahlurne. Der Andrang in den einzelnen Wahllokalen war zeitweise so groß, daß man die Pforten vorübergehend schließen mußte.”- so die ‚Schleswig-Holsteinische Tageszeitung’ über den Tag der Abstimmungen am 12. November 1933 in Heide. Es war der erste Urnengang der NS-Diktatur, und sie folgten jedes Mal auf eine (außen)politische Krise: 1933 dem Austritt aus dem Völkerbund, 1934 dem Tod des Reichspräsidenten, 1936 dem Einmarsch ins entmilitarisierte Rheinland sowie 1938 der Annexion Österreichs. Sie dienten dazu, dem Ausland die Einheit zwischen „Volk und Führer” zu demonstrieren. Im Inland sollten sie helfen, die sozialdemokratischen und kommunistischen Regimegegner zu isolieren und den Aufbau der „Volksgemeinschaft“ zu befördern.

Das Wahlrecht der Weimarer Republik

Die Weimarer Republik hatte ein freies und geheimes Verhältniswahlrecht ohne einschränkende Fünf-Prozent-Klausel. Wer bei den Wahlen 60.000 Stimmen erhielt, bekam ein Reichstagsmandat. Wählen konnten Männer und – im Gegensatz zum Kaiserreich! – auch Frauen, die das 20. Lebensjahr vollendet hatten, wählbar war man mit 25 Jahren. Wer sich am Wahltag nicht in seiner Heimatgemeinde aufhielt, konnte einen sogenannten „Stimmschein“ beantragen. Mit ihm durfte dann in jedem Wahllokal gewählt werden. Eine formale Wahlpflicht gab es nicht, doch war es schon in der Weimarer Republik gängig, das Wahlrecht für Staatsbürgerpflicht zu halten.

Der Stimmzettel unterschied sich anfangs von den uns heute bekannten sehr: noch 1919 und 1921 mussten sich die Wahlberechtigten von ihrer Partei einen Stimmzettel besorgen, der lediglich den Namen dieser Partei bzw. dessen Kandidaten trug. Dies führte dazu, dass die Parteien mit so genannten „Schlepperdiensten“ ihre eigenen Anhänger mobilisierten und Stimmzettel an sie verteilten. Deshalb war es gängige Praxis der Parteien bis vor den Wahllokalen Wahlwerbung zu betreiben. Erst seit Mai 1924 kamen Stimmzettel in Gebrauch, die die Namen aller Parteien und deren Kandidaten aufführten.

Die Weimarer Verfassung hatte zudem Elemente der direkten Demokratie. Mit einem Volksbegehren konnte eine Regierung gezwungen werden, einen Volksentscheid zuzulassen. Dessen Ergebnis war nur dann bindend, wenn die Hälfte aller Wahlberechtigten daran teilgenommen hatte. Dieses Quorum von 50 Prozent führte dazu, dass Gegner des Volksentscheids einfach nicht zur Wahl gingen, statt mit „Nein“ zu stimmen.

Ohne das erst mit dem Groß-Hamburg-Gesetz von 1937 an die preußische Provinz Schleswig-Holstein angeschlossene Lübeck (Lübeck und Fürstbistum Lübeck /Landesteil Lübeck) stieg die Anzahl der Wahlberechtigten von 934.000 auf 1,13 Millionen an. Die Provinz wurde bis 1921 als „Wahlkreis 14“, dann als „Wahlkreis 13“ geführt.

„Wahlrecht ist Wahlpflicht“

 „So tue Deine Pflicht“ hieß es in der ‚Nordischen Rundschau’ vor der Volksabstimmung vom 19.August 1934, die nach dem Tod Hindenburgs den „Führer“ auch die Aufgabe des Reichspräsidenten übertragen sollte
„So tue Deine Pflicht“ hieß es in der ‚Nordischen Rundschau’ vor der Volksabstimmung vom 19.August 1934, die nach dem Tod Hindenburgs den „Führer“ auch die Aufgabe des Reichspräsidenten übertragen sollte

Die Nationalsozialisten hielten sich also zumeist an die Wahlordnung der Weimarer Republik. Das bedeutet: Formaljuristisch wurde geheim gewählt und das Wahlgeheimnis durfte scheinbar nicht gebrochen werden. Zudem gab es theoretisch keine Wahlpflicht, in der Praxis hingegen einen Zwang zur Wahl zu gehen: „Wahlrecht ist Wahlpflicht! Es darf sich niemand ausschließen, keiner darf seine staatsbürgerliche Pflicht versäumen!“ – so Gauleiter Hinrich Lohse (*1896-1964†) im August 1934. Kein Interesse hatten die Nationalsozialisten dagegen daran, das Verfahren für Volksbegehren und Volksentscheide der Weimarer Republik zu übernehmen. Schon am 14. Juli 1933 erließen sie ein „Gesetz über Volksabstimmung“. Dieses machte es möglich, neben Gesetzen nun auch über Maßnahmen der Regierung abzustimmen. Zudem wurde das 50-Prozent-Quorum gestrichen, damit genügte eine einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Faktisch wurden Volksabstimmungen eingesetzt, um die scheinbare oder tatsächliche Einheit zwischen der NS-Führung und der von ihr propagierten Volksgemeinschaft zu demonstrieren.

Die Wahlpropaganda …

 Der Eutiner Marktplatz vor der letzten Reichstagswahl 1938: „Dein Ja dem Führer am 10. April“
Der Eutiner Marktplatz vor der letzten Reichstagswahl 1938: „Dein Ja dem Führer am 10. April“

Der erste Wahlgang im Einparteienstaat war die Reichstagswahl vom 12. November 1933 kombiniert mit einer Volksabstimmung über den Austritt des Deutschen Reiches aus dem Völkerbund: Da sämtliche anderen Parteien verboten waren oder sich selbst aufgelöst hatten, trat nur noch die NSDAP an. Sie nutzte konsequent und modern alle verfügbaren Mittel. So traten nicht nur lokale Parteigrößen wie Gauleiter Hinrich Lohse, sondern auch überregionale NS-Funktionäre und Regierungsmitglieder in der Provinz als Redner auf. So sprachen 1933 in Kiel sowohl Hermann Göring als auch Adolf Hitler und vor den folgenden Wahlen und Abstimmungen folgten ihnen unter anderem Rudolf Heß (1934, Kiel), Reichslandwirtschaftsminister Walther Darré (1936, Altona), Reichsinnenminister Wilhelm Frick (1936, Flensburg) und Joseph Goebbels (1936, Kiel). 1938 traten dagegen „nur“ regionale Redner auf, weil die Parteiprominenz im gerade „angeschlossenen“ Österreich agitierte. An der Tagesordnung waren bei allen Wahlen Kundgebungen und Aufmärsche von Partei, SA, SS oder auch der Hitler Jugend. Die Presse wurde voll in die Propaganda eingebunden. Sie berichtete nicht nur begeistert von Wahlveranstaltungen, sondern druckte auch Wahlkampfparolen wie „Deine Stimme dem Führer!”, Gedichte auf Hitler oder ausgedachte Anekdoten von „Volkesstimme”. Zudem gab es klare Anweisungen des Propagandaministeriums an die Zeitungen darüber, wann, wo und mit welcher Kommentierung bestimmte Artikel zu erscheinen hätten.

… spannt alle ein

Fünf Tage vor der Reichstagswahl 1936 erinnerten die ‚Kieler Neueste Nachrichten“ an das, was der deutsche Arbeiter Gutes vom NS-Regime erfahren haben soll
Fünf Tage vor der Reichstagswahl 1936 erinnerten die ‚Kieler Neueste Nachrichten“ an das, was der deutsche Arbeiter Gutes vom NS-Regime erfahren haben soll

Aufrufe aus Industrie, Handwerk und auch der evangelischen Landeskirche kamen dazu. Kurz vor der Wahl vom 12. November 1933 veröffentlichte die Kirche den Aufruf: „Gott will, daß Friede auf Erden sei. Darum ist der Kampf für einen echten Frieden, zu dem der Kanzler uns aufruft, unsere Glaubenspflicht […] Darum kann die Losung für den 12. November nur lauten: Seid getreu und seid getrost!“ Veranstaltungen an Schulen, Straßenpropaganda der SS und SA sowie die Übertragung der Abschlussrede Hitlers auf zentrale Kundgebungsplätze oder in große Hallen schlossen den Wahlkampf in der Regel ab. Von 1936 an wurde am Ende das niederländische Dankgebet „Herr mach uns frei” gesprochen und die „Volksgemeinschaft“ beschworen. Hitler selbst wurde durch pseudoreligiöse Rituale zum Messias der Deutschen stilisiert. Ihm allein wurde der beschworene und behauptete Aufstieg des Landes nach 1933 zugeschrieben. So etwa SA-Obergruppenführer Joachim Meyer-Quade vor Werftarbeiter in Kiel 1938: „Der Führer braucht unser Bekenntnis! … Die Welt soll hören, was wir denken: die Welt soll vernehmen, was wir glauben: Ein Volk, ein Reich, ein Führer!”

Der Wahlsonntag

Wählen unterm Hakenkreuz und in Dienstuniform: Blick in ein Flensburger Wahllokal
Wählen unterm Hakenkreuz und in Dienstuniform: Blick in ein Flensburger Wahllokal

Am Wahltag weckten Spielmannszüge der SA oder der HJ die Bevölkerung. Die Wahlpropaganda machte auch vor den Wahllokalen nicht Halt und in ihnen überwachten zumeist NSDAP-Mitglieder als Wahlvorstände die Abstimmung. Offiziell waren Wahlurnen und -kabinen vorgeschrieben und wurde auf das Wahlgeheimnis abgehoben: „Mit peinlicher Genauigkeit bemühten sich die Wahlvorstände alle Vorschriften strikt innezuhalten, so daß keinerlei Zwischenfälle eintreten konnten und der streng geheime Charakter der Wahl und der Abstimmung unbedingt gewahrt blieb”, schrieben die ‚Kieler Neuesten Nachrichten’ zum Urnengang 1933. Allerdings hingen im Wahllokal Hakenkreuzfahen und Portraits des Reichskanzlers Adolf Hitler. Den Parteimitgliedern war es „erlaubt“ in Dienstuniform den Wahldienst zu verrichten. Nach fast allen Wahlen erhielt man ein Wahlabzeichen, wodurch man auf der Straße sozialen Druck gegenüber den Nichtwählern ausübte, ebenfalls wählen zu gehen. Die SA durfte die Wählerlisten einsehen und begann von Mittag an ihren „Wahlschleppdienst“, um sogenannte „säumige” Wählerinnen und Wähler zu Hause aufzusuchen. Wer sich diesem Zwang, zur Wahl zu gehen, entzog, konnte auch nach der Abstimmung noch mit Sanktionen – etwa seitens des Arbeitgebers – rechnen. Offiziell mußte öffentlich ausgezählt werden, doch sehr wahrscheinlich wurde von 1936 an die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Die Ergebnisse wurden abends vor den Zeitungshäusern verkündet und am nächsten Tag auf den Titelseiten gefeiert: „Das Wunder des 12. November: Deutschland total nationalsozialistisch” (1933), „Hitler ist Deutschland” (1934), „Ganz Deutschland geschlossen hinter seinem Führer” (1936), „Triumphales Bekenntnis aller Deutschen” (1938).

Bis zu 98 Prozent

 Mit der „neuen Landkarte“ warb die ‚Nordische Rundschau“ am Sonnabend vor der Abstimmung für das „Ja“ zum „Anschluß“ Österreichs
Mit der „neuen Landkarte“ warb die ‚Nordische Rundschau“ am Sonnabend vor der Abstimmung für das „Ja“ zum „Anschluß“ Österreichs

Die Zustimmung in der Provinz Schleswig-Holstein wich zum Teil sehr stark von der im Deutschen Reich ab. Sie lag bis zu 5 Prozent unter dem Reichsdurchschnitt und schwankte von 84,1 Prozent (Reichstagswahl 1933) über 80,3 Prozent (1934) bis zu 95,7 Prozent (1936) und 97,7 Prozent der Wahlberechtigten (1938). Die schlechtesten Ergebnisse mussten die Nationalsozialisten in der Hochburg der dänischen Minderheit Harrislee / Kreis Flensburg (64,2 Prozent der Wahlberechtigten) hinnehmen, gefolgt von den ehemaligen Hochburgen der Arbeiterparteien Langelohe / Kreis Pinneberg (67,2 Prozent) und Lägerdorf / Kreis Steinburg (69,7 Prozent). In einzelnen städtischen und wenigen ländlichen Wahllokalen gab es bis zu 30 Prozent Gegenstimmen und in Lübeck – das erst seit 1937 zu Schleswig-Holstein gehörte – sogar in einem Wahllokal über 50 Prozent (1933). Zumindest in den Anfangsjahren der NS-Diktatur war es also noch möglich gewesen, sich bei „Wahlen“ gegen das Regime auszusprechen. Allerdings musste man dafür ein „Nein“ auf die Wahlzettel schreiben, denn es gab bei Reichstagswahlen jeweils nur den Kreis für das Kreuz für die NSDAP.

Wahlmanipulationen

Grafik zur Volksabstimmung am 19. August 1934. Mit einem Klick auf die Bildfläche öffnet sich eine neues Fenster mit der vergrößerten Abbildung
Grafik zur Volksabstimmung am 19. August 1934. Mit einem Klick auf die Bildfläche öffnet sich eine neues Fenster mit der vergrößerten Abbildung

Das NS-Regime veränderte die Ergebnisse der Abstimmungen Schritt für Schritt in ihrem Sinne. Dafür wurden Gesetze geändert oder ohne rechtliche Grundlagen manipuliert:

  • im März 1933 erhielten die Auslandsdeutschen das Wahlrecht bei der Einreise ins Inland und für die zumeist wohnsitzlosen Seeleute wurde das Wahlrecht vereinfacht;
  • im November 1933 wurden ein größerer Teil der ehemals ungültigen Stimmen durch eine legale Veränderung der Stimmauszählung als Stimmenthaltung gewertet;
  • im März 1936 wurde die „jüdische“ Bevölkerung ihres Wahlrechts beraubt, und das Reichsinnenministerium ordnete eine geheime Wahlfälschung an: Stimmzettel ohne Markierung/Kreuz sollten als gültig und Zustimmung gezählt werden;
  • im April 1938 schloss Himmler persönlich – ohne rechtliche Grundlage – die (politischen) Schutzhäftlinge von den Wahlen aus.

All dies wirkte sich beim Auszählen der Stimmen aus. So wurden in Schleswig-Holstein im November 1933 maximal 15.000 ehemals ungültige Stimmen zu Stimmenthaltungen umgewertet. Nach dem alten Auszählungsmodus hätte es als Endergebniss 11,5 Prozent Gegenstimmen gegeben, nun waren es nur 10,4 Prozent. Die gezielte Wahlfälschung vom März 1936 läßt sich hingegen nicht genau beziffern: So beklagte sich der Pinneberger Landrat darüber, dass „seine” Wahlvorstände die geheim zu haltende Regelung nicht umgesetzt hätten, während für den Landkreis Oldenburg in Holstein eine Quelle belegt, dass drei Prozent aller Stimmzettel der Fälschung zum Opfer fielen und für die Stadt Eutin sogar auf 100 Gegenstimmen nochmals 350 leere Stimmzettel kamen. Damit ist für 1936 schätzungsweise von 90.000 bis 100.000 Gegenstimmen statt der behaupteten 23.000 auszugehen. Wie sich der Ausschluss der als jüdisch definierten Bevölkerung und später der Schutzhäftlinge auswirkten, muss offen bleiben. Wie letztere wählten, zeigt eine Meldung des Direktors der Landesarbeitsanstalt Glückstadt für November 1933: „Nachstehend teile ich den Wahlausgang im Wahlbezirk Konzentrationslager Glückstadt mit: Reichstagswahl: Es wählten NSDAP 46, ungültig waren 24. Volksbefragung: Ja-Stimmen 44, Nein-Stimmen 18, ungültig waren 8. Das Ergebnis zeigt, daß rund ein Drittel aller Schutzhäftlinge immer noch nicht begriffen hat oder begreifen will, um was es heute geht. Leider sind die Namen der Unbelehrbaren nicht festzustellen.”

Bruch des Wahlgeheimnisses ….

Den Bruch des Wahlgeheimnisses belegt ein Brief eines Rechtsanwalts an den Landrat des Kreises Rendsburg im Oktober 1934: „der dortige Wahlvorsteher bei der letzten Volksabstimmung, Bauer Heinrich W. in Luhnstedt hat das Wahlgeheimnis dadurch gebrochen, daß er bei bestimmten Wählern die Klappe des Umschlages zum Wahlzettel durch Einknicken kenntlich machte, um festzustellen, wie diese Leute gewählt hätten.” In Oststeinbek/Kreis Stormarn erhielt ein Wähler 1936 einen gekennzeichneten Stimmzettel. In einem Vermerk der Behörden hieß es dazu: „Kreisleiter Friedrich gab an, in Billstedt und Oststeinbek arbeitet die KPD besonders stark. Es wird dies der Grund sein, weshalb die beiden Beschuldigten die Tat begannen haben. Die haben feststellen wollen, welche Personen staatsfeindlich eingestellt seien. Dies ist allerdings sehr ungeschickt geschehen. [Satz im Original durchgestrichen, F.O.] Beide haben aber zweifellos das Gute gewollt.”

Verordnete Wahlfälschung

Die staatlich angeordnete Wahlfälschung 1936 wurde sogar Thema einer Sondergerichtsverhandlung: ein 21jähriger Schlosser auf einer Werft in Kiel, Willy O., hatte nämlich folgendes beobachtet: „Er sei nämlich am Sonntag, den 29. März 1936, in dem Wahllokal Gausstrasse gewesen. Dort habe er sich vor Schließung der Tür in das Zimmer hineingeschmuggelt. Dann habe er gesehen, wie 2 Wahlzettel, bei denen in dem einen in dem Kreuz ein Tintenfleck gewesen sei und bei dem anderen der Kreis gar kein Zeichen enthielt, mit zu den Zetteln gelegt worden sei, wo die Ja-Stimmen gelegen hätten.” Obwohl dieser Sachverhalt den Tatsachen entsprach, meinte die Staatsanwaltschaft: „Es besteht kein Zweifel daran, dass die allgemeine Behauptung, die ganze Wahl sei eine fürchterliche Schiebung gewesen, unwahr ist.” Willy O. wurde wegen dieser und anderer „heimtückischer Äußerungen” zu fünf Monaten Gefängnis verurteilt.

Jagd auf Nichtwähler

Wahlplaketten halfen, Nichtwähler zu identifizieren
Wahlplaketten halfen, Nichtwähler zu identifizieren

Die Nationalsozialisten verfolgten nicht nur solche – ihrer Ansicht nach – regimegegnerischen Haltungen. Es kam ihnen auch darauf an, die Nichtwähler anhand der Stimmlisten aus den Wahllokalen zu identifizieren. Gerade Beamten drohte bei Stimmenthaltung Sanktionen, wie das Beispiel eines Bad Oldesloer Zeugen Jehovas zeigt, der 1933 seinen Arbeitsplatz bei der Landwirtschaftkammer in Kiel verlor. Zwei weitere Beispiele aus dem Jahr 1938 zeigen ebenfalls das Risiko von Wahlenthaltungen auf: In Havetoft/Kreis Schleswig wurde dem Pastors ein Plakat mit der Aufschrift „Hier wohnt ein Volksverräter” ans Haus geklebt, und in Reinfeld/Kreis Stormarn zwang eine Menschenmenge unter Rufen wie „Hängt sie auf” und „Werft sie in den Teich” Mutter und Tochter der Familie G. zu einem 40-minütigen Fußmarsch zum Rathaus, weil sie des Nichtwählens verdächtig wurden. Glücklicherweise konnte die Menschenmenge vor dem Rathaus zerstreut werden. Unter Generalverdacht stand auch die Dänische Minderheit, wie die Meldung des Landrats des Kreises Flensburg im April 1938 zeigt: „Die Zahl der Minderheitsangehörigen, die Stimmenthaltung geübt haben, macht im Kreis etwa die Hälfte der stimmberechtigten Minderheitsangehörigen aus. Von der anderen Hälfte, die zur Wahl gegangen ist, hat ein erheblicher Teil offensichtlich mit ‚Nein‘ gestimmt.”

Verfolgung des Widerstands

Zu Beginn der NS-Herrschaft kam es immer wieder zum Widerstand durch die illegale SPD und KPD. So wurden in Flensburg 1933 zum Beispiel drei Kommunisten, die die „Rote Fahne” verteilen wollten, festgenommen und in Altona ein Sozialdemokrat verhaftet, der durch ein „Merkblatt zur Wahl am 12.11.33” dazu aufrief, mit „Nein” zu stimmen. Hier hob die Gestapo auch eine kommunistische Druckerei aus, nahm 18 KPD-Funktionäre fest und verhinderte so eine größere Verteilung der illegalen „Hamburger Volkszeitung”. In Lübeck flog sogar die illegale KPD-Unterbezirksleitung auf, nachdem ihr politischer Leiter am Tag vor der Reichstagswahl mit Flugblättern verhaftet worden war. Außerdem wurden mindestens ein Dutzend Wahlberechtigte wegen „heimtückischer Äußerungen” mit Bezug zu den Urnengängen vor dem Sondergericht angeklagt. So legte die Anklage etwa dem 47jährigen Kranführer J. – einem ehemaligen DNVP und NSDAP-Mitglied – aus Kiel 1934 die folgende Äußerung zur Last: „Die Wahl-Beteiligung habe keine 90 % betragen, das wäre Schwindel, denn wenn die Listen der Wahllokale nach dem Rathaus geschickt würden, machten die Herren doch damit was sie wollten. Er habe selbst mit im Wahllokal gesessen.” Der Kranführer wurde freigesprochen, da das Gericht die Belastungszeugen – seine Arbeitskollegen! – als unglaubwürdig einstufte. Der Ludendorff-Anhänger Friedrich N. äußerte sich in einer Gaststätte in Henstedt 1936 so: „Alle, die mit ‚Ja‘ gestimmt hätten, seien verblödet, denn die größten Kälber wählten ihre Schlächter selber.” Herr N. wurde zu vier Monaten Gefängnis verurteilt.

Abschließende Bewertung

 Die Grafik zeigt die Wählerwanderung zwischen der Reichstagswahl im März 1933 und der Abstimmung über die Nachfolge Hindenburgs August 1934
Die Grafik zeigt die Wählerwanderung zwischen der Reichstagswahl im März 1933 und der Abstimmung über die Nachfolge Hindenburgs August 1934

In Schleswig-Holstein stimmten 1933 bis 1938 nachweisbar mindestens zwischen 16.600 (1938) und 164.000 (1934) Wahlberechtigte gegen das NS-Regime. Die meisten dieser Gegenstimmen stammten aus den ehemaligen kommunistischen und – eher schwächer – sozialdemokratischen Hochburgen. Wählerwanderungsanalysen für 1933 und 1934 belegen, dass lediglich ein Drittel der ehemaligen kommunistischen Wählerschaft am Anfang der NS-Diktatur für das Regime stimmte. Von den ehemaligen sozialdemokratischen Anhängern waren noch ein Drittel bereit, sich bei den ersten Abstimmungen gegen die Nationalsozialisten zu stellen. Dementsprechend überrascht es nicht, dass von allen Berufsgruppen die (erwerbslosen) Arbeiter in den Städten das größte Widerstandspotential stellten und die Selbstständigen auf dem flachen Land am häufigsten das NS-Regime wählten. Zudem hatten sich Wähler aus den Reihen der dänischen Minderheit der Stimme enthalten oder mit „Nein“ gestimmt. Selbst aus der konservativen Wählerschaft gab es nicht nur „Ja-Stimmen“, ein sehr kleiner Teil enthielt sich oder gab einen ungültigen Stimmzettel ab. Qualitative und quantitative Aussagen über das Wahlverhalten Einzelner bzw. das Wahlverhalten der diskriminierten und verfolgten jüdischen Bevölkerung sind leider nicht möglich, auch wenn hierzu plausible Vermutungen denkbar sind. Weder die wahlstatistische Überlieferung noch die in Aktenquellen ermöglicht es bisher zum Wahlverhalten der jüdischen Minderheit in Schleswig-Holstein Aussagen zu treffen.

Unabhängig von den jeweiligen Motiven der Wahlberechtigten brauchte es aber Mut, einen leeren Stimmzettel abzugeben, nicht zur Wahl zu gehen oder gar gegen das NS-Regime zu stimmen. Diese Verhaltensweisen sind deshalb als politisch gegen das NS-Regime gerichtetes Handeln und damit als defensiver Widerstand zu bewerten.

*Behauptete Aussage eines Ehemannes zu seiner Frau vor einem Wahllokal. In der Folge soll der Mann verhaftet worden sein. Laut dem Artikel „Zwei widerwärtige Zeitgenossen“ in: Schleswig-Holsteinische Tageszeitung vom 13.November 1933.

Frank Omland (TdM 0606/0721)

Hinweis: Der Verfasser aktualisiert in größeren Abständen eine wahlstatistische Datenbank unter www.akens.org (Button: TEXTE)

Literaturhinweise: Frank Omland: „Du wählst mi nich Hitler!“. Reichstagswahlen und Volksabstimmungen in Schleswig-Holstein 1933-1938. Hamburg 2006, 256 Seiten. Zahlreiche Tabellen, Grafiken, Karten und Fotos; Frank Omland: „Jeder Deutsche stimmt mit Ja!“ Die erste Reichstagswahl und Volksabstimmung im Nationalsozialismus am 12. November 1933. In: Zeitschrift der Gesellschaft für schleswig-holsteinische Geschichte. Band 131, Neumünster 2006, S. 133-175; Otmar Jung: Plebiszit und Diktatur: die Volksabstimmungen der Nationalsozialisten. Die Fälle „Austritt aus dem Völkerbund“ (1933), „Staatsoberhaupt“ (1934) und „Anschluß Österreichs“ (1938). Tübingen 1995; Ders.: Wahlen und Abstimmungen im Dritten Reich 1933-1938. In: Wahlen in Deutschland, hrsg. von Eckhard Jesse u. Konrad Löw. Berlin 1998, S. 69-97; Frank Omland: Nationalsozialistische Volksabstimmungen und Reichstagswahlen in Kiel 1933–1938. Unv. Manuskript (Landesbibliothek Kiel), Hamburg 2001, 102 Seiten plus tabellarischer und kartografischer Anhang; Frank Omland: „Unser aller ‚Ja’ dem Führer!“ Zur Geschichte der ersten nationalsozialistischen Reichstagswahl und Volksabstimmung vom 12. November 1933 in Schleswig-Holstein. In: Informationen zur schleswig-holsteinischen Zeitgeschichte (ISHZ), Heft 39, April 2001, S. 3-50; Frank Omland: „Der Parlamentarismus der alten Form existierte schon nicht mehr“. Die schleswig-holsteinischen Abgeordneten der NSDAP im Reichstag 1924-1945. In: Informationen zur schleswig-holsteinischen Zeitgeschichte (ISHZ), Heft 41/42, April 2003, S. 100-129.

Bildquellen: Vignette/Wahllokal Flensburg: Stadtarchiv Flensburg; Zeitungen: Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek (SHLB), Kiel sowie Bibliothek des Altonaer Museums, Hamburg; Landesarchiv, Schleswig (LAS); Eutin: Stadtarchiv Eutin; Grafiken: Frank Omland